„101:58 – Ich war dabei“

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Gießen gegen Leverkusen, Leverkusen gegen Gießen – das ist eine Auseinandersetzung, die schon seit einer kleinen Ewigkeit vielmehr bedeutet als ein bloßes Basketball-Spiel. Mehr als dreißig Jahre beinhaltete diese Auseinandersetzung emotionalen Zündstoff in der David-gegen-Goliath-Kategorie. Vergleichbar nur noch mit den Rivalitäten der Schalker und Dortmunder oder der 60er mit den Bayern. Und so, wie die Löwen in München in schöner Regelmäßigkeit die Derbys gegen die „Bonzen aus der Grünwalder Straße“ verlieren, so unabänderlich schienen Gießener Basketball-Teams die Punkte in der Leverkusener Rundsporthalle lassen zu müssen.

Ob die Trainer Neumann, Andres oder Brauer hießen, eine Auswärtsfahrt zum Bayer-Kreuz bedeutete stets einen Ausflug mit sicherem Ausgang: Es gab für Gießen nie einen Blumentopf zu gewinnen. Bis zur Saison 1997/98 – einer Spielzeit, die der damalige MTV-Trainer Stefan Koch in der Rückschau als „Seuchensaison“ bezeichnete. Jimmy Shields verletzte sich seinerzeit bereits in der Vorbereitungsphase schwer. Die Mannschaft musste über Wochen ohne den etatmäßigen Center spielen, erkämpfte sich bis Anfang November dennoch ein ausgeglichenes Punktekonto, musste dann am Doppelspielwochenende erst gegen Rhöndorf antreten, dann Richtung Leverkusen aufbrechen.

Die Partie gegen Rhöndorf wurde knapp gewonnen, dennoch fürchtete jeder, dass von der Partie in der Leverkusener Wilhelm Dopatka Halle wieder einmal das Murmeltier grüßen würde. Aber weil es eben immer etwas Besonderes ist, gegen den „Intimfeind“ anzutreten, machten sich 300 Fans mit auf den Weg – eher trotzig als wirklich optimistisch. Was dann allerdings geschah, war ein Stück für die Basketball-Geschichtsbücher. Mit 101:58 (42:29) fertigte das Gießener Notteam Goliath Leverkusen ab.

Angeführt vom US-Spielmacher Keith Gatlin (28 Punkte/11 Rebounds) absolvierte der wenig später vorzeitig wieder entlassene Shields-Ersatz Scott Meents sein bestes Spiel im Gießen-Trikot (10 Punkte/10 Rebounds) und konnte sich der spätere Trainer der Licher Zweitligamannschaft, Arne Alig, unter den Körben nach Herzenslust austoben (16 Punkte, 9 Rebounds).

Leverkusens Coach Dirk Bauermann erschien nachher nicht zur Pressekonferenz, streichelte stundenlang die angeknackste Psyche seiner zu Zwergen geschrumpften „Riesen vom Rhein“ (Bauermann später: „Das war heute ein Massaker Tag. Es gab in der Kabine kein lautes Wort. Es hat doch keinen Sinn auf ein totes Pferd noch einzuschlagen.“) Und der Basketball-Kommentator des Gießener Anzeigers, Michael Müller, selbst als Co-Trainer unterschiedlicher Coaches häufig genug mit einer Niederlage aus Leverkusen heimgekehrt, konnte seine heimliche Freude über diesen Jahrhundertsieg, der zudem noch live vom DSF übertragen wurde, in seiner Kolumne nur schwer verbergen: „Bei den Bayer-Verantwortlichen dürften, nach diesem Schockerlebnis erster Güte, aber nicht nur die Kopfschmerzen, sondern auch noch Bauchschmerzen, verbunden mit starker Übelkeit als spontane Krankheitssymptome aufgetreten sein… Der MTV 1846 holte sich mit diesem Blockbustersieg nicht nur zwei wichtige Auswärtspunkte, vielmehr zerlegte er das total hilf- und kopflos wirkende Bayerteam derart in seine Einzelteile, wie man es in den vielen Jahren Leverkusener Bundesligazugehörigkeit wohl noch nie erlebt hat.“

Die mitgereisten Fans aber waren sich ganz sicher, an einem „Magic Moment“ teilgenommen zu haben. Wenige Tage später gab es T-Shirts zu kaufen „101:58 – ich war dabei“. Die Hemdchen fanden reißenden Absatz. Denn wenn es heißt, Gießen gegen Leverkusen oder Leverkusen gegen Gießen, dann ist das immer viel mehr als bloß ein Basketball-Spiel.

Text: Wolfgang Lehmann

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