Ernie Butler, der den MTV 1846 Gießen zur ersten Deutschen Meisterschaft warf, wird am Montag 90 Jahre alt
Es war eine kalte, ungemütliche Herbstnacht 1962, als einige MTV-Basketballer nach einer Niederlage beim EOSC Offenbach am Gießener Hauptbahnhof ankamen und ihren Ärger noch mit dem einen oder anderen Bierchen stillen wollten. Viele Kneipen hatten geschlossen, nur die „Casanova-Bar“, das „Hauptquartier der Leichtlebigen“, wie sie Stadtführerin Dr. Jutta Failing bei ihren Rundgängen gerne bezeichnet, hatte noch geöffnet. „Also sind wir hinein, haben aber kaum einen Platz gefunden, das Ding war rappelvoll“, erinnert sich Bernd Röder, der einst zu den Besiegten beim Hessenliga-Auswärtstrip gehörte.
An einem Tisch schlief ein US-Soldat seinen Rausch aus. „Wir glaubten, er hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass wir uns zu ihm gesetzt hatten.“ Weit gefehlt. Denn schon am anderen Tag tauchte der Mann aus Übersee wieder im Amüsierbetrieb auf und erkundigte sich beim Barkeeper: „Gibt es hier in der Stadt einen Basketball-Club? Gestern Abend haben einige sehr große Männer bei mir am Tisch gesessen …“
Der Getränkemixer erklärte dem jungen Mann, in welcher Halle gespielt würde, also packte der angebliche Soldat noch am gleichen Abend seine Sachen, ließ sich von einem Offizier in der Kaserne ein Taxi ordern und tauchte in der Sporthalle der Pestalozzischule auf, wo die MTV-Cracks um Bernd Röder, Klaus Jungnickel und Hans-Georg Rupp trainierten. „Er hat einen ordentlichen Eindruck gemacht, und spielen konnte er richtig gut, also haben wir ihn mitmachen lassen.“
Es sollte eine weise Entscheidung sein, denn mit dem, was viele damals nicht wussten, als Lehrer an der Junior-High-School arbeitenden Mann aus den Staaten, begann die große und bis heute erfolgreichste Zeit des MTV 1846 Gießen, die schließlich in fünf Meisterschaften und drei Pokalsiegen mündete. Denn jener US-Bürger, der in der „Casanova-Bar“ seinen Rausch ausgeschlafen hatte, war Ernest, allen Basketball-Fans besser bekannt als „Ernie“ Butler. An diesem Montag (22. April) wird der Pointguard, dem der Sport unter den Körben an der Lahn so unendlich viel zu verdanken hat, 90 Jahre alt.
Mit Ernie Butler gelang dem MTV 1846 Gießen einst der Aufstieg in die höchste deutsche Spielklasse. Und 1964 schickten sich die Männerturner dann sogar an, um die Meisterschaft mitzuspielen. Als schließlich auch noch Holger Geschwindner (Butler: „Holger war super, aber untrainierbar“) und der längst verstorbene „Pollo“ Urmitzer zum MTV stießen, gab es kein Halten mehr.
In dem unvergessenen Heidelberger Endspiel gegen den VfL Osnabrück verwandelte Ernie Butler nach langem Pass von Holger Geschwindner („Ich weiß nicht, warum er mich angespielt hat, denn ich habe an diesem Tag nicht besonders gut getroffen. Außerdem hatte unser Coach Pit Nennstiel einen völlig anderen Spielzug vorgegeben“) unmittelbar vor der Schlusssirene zum 69:68-Sieg und sicherte Gießen damit den ersten deutschen Meistertitel. Als die Mannschaft zurück nach Gießen kam, war die Begeisterung riesig. „Uns wurde ein roter Teppich ausgerollt und die Fans schrien meinen Namen“, war Ernie Butler überwältigt.
Unmittelbar nach dem größten Erfolg wechselte Butler zu Bayern München. Mit Holger Geschwindner, dem Mentor von Dirk Nowitzki, verbindet ihn bis heute eine enge Freundschaft. Und vor allem die gleiche Basketball-Philosophie. „Basketball ist Jazz“, sagte Butler einst. Und weilte mehrmals bei den von Holger Geschwindner veranstalteten Nachwuchs-Trainingslagern. Er zeigte den Spielern, dass jede Basketball-Bewegung „auch rhythmisch ausgeführt werden kann“. Butler spielte Melodien auf dem Saxofon, die Jugendlichen sollten dazu völlig losgelöst Basketball-Bewegungen machen. Butler, der Dirk Nowitzki die Anfänge des Saxofonspielens beibrachte, beschrieb die Verbindung zwischen Musik und dem Basketballsport mit den Worten: „Die Melodie geht dir in Fleisch und Blut über. Man lernt schneller.“
Doch zurück zu den Anfängen in Deutschland, wo der Sohn eines Priesters aus Connersville in Indiana einen Kulturschock erlebte. „Ich war Lehrer, ich wollte nach Berlin oder München. Am Frankfurter Flughafen haben sie mir dann gesagt, dass ich nach Gießen komme. Davon hatte ich noch nie gehört!“ Der erste Eindruck Butlers von der Universitätsstadt an der Lahn war dann erwartungsgemäß. Hier bleibst du kein Jahr, dachte sich der junge Mann, musste aber sofort innerlich einlenken. Denn ein Abbruch der pädagogischen Mission vor Ablauf der vertraglichen Mindestzeit von 24 Monaten hätte bedeutet, dass Butler den Heimflug aus eigener Tasche hätte bezahlen müssen. So arrangierte sich der Gestrandete mit den Lebensumständen, tobte täglich mit dem Basketball durch die Millerhall und ertränkte abends hin und wieder sein Heimweh in einschlägigen Kneipen.
In der Millerhall, für die Butler einen Schlüssel hatte, landeten schließlich auch Bernd Röder und Co. immer öfter. „Wir haben dort regelmäßig drei gegen drei gespielt und uns von Woche zu Woche verbessert. Der Basketballsport, den wir bis dato als Hobby ansahen, hat uns plötzlich mehr interessiert als alles andere. Wir waren euphorisiert“, so Röder, der weiß, dass der Ursprung aller Erfolge eng mit der Verbundenheit zu Ernie Butler und den zahlreichen Einheiten in der US-Sporthalle zusammenhängt.
Mit seiner Frau Heidi lebt Butler seit über 30 Jahren in München-Straßlach. Noch immer trainiert er die Frauen und Mädchen des TSV Grünwald. Insgesamt hat er in seinem Leben über 50 Teams gecoacht – in allen Alters- und Qualitätsstufen. Von Elementary School bis Bundesliga. Ein Leben voller Sport und Musik, aber auch voller Widerstände. Denn sein Wirken galt auch dem Kampf gegen die Demütigungen, Ungerechtigkeiten und Gefahren, denen die schwarze Bevölkerung ausgesetzt war und noch immer ist. „Als ich nach Deutschland kam, musste ich feststellen, dass es sehr enttäuschend war, wie Afroamerikaner und alle Minderheiten in den Schulbüchern so erbärmlich dargestellt wurden. Dagegen habe ich immer protestiert“, erinnert sich Butler an seine Anfänge als Lehrer in Deutschland.
Ernie Butler hat drei erwachsene Kinder, zwei Söhne und Tochter Naima, mit der er im „Naima-Butler-Trio“ Jazz-Musik macht. Seine sonore Stimme klingt noch heute nach Louis Armstrong, dem größten Jazz-Musiker des 20. Jahrhunderts.
Wenn sich kommendes Jahr die erste deutsche Basketball-Meisterschaft des MTV 1846 zum 60. Mal jährt, dann wird sicher auch Ernie Butler wieder an die Lahn kommen, um alte Freunde zu treffen und vor allem alte Geschichten aufleben zu lassen. Wie die aus der „Casanova-Bar“ …
19.04.24