Der MTV 1846 Gießen galt von jeher als eine Talentschmiede im deutschen Basketball. Anders als in der vergangenen Saison, in der Avitos Gießen das Team mit dem höchsten Ausländeranteil der Liga stellte, rekrutierte sich die Mannschaft in den Meisterjahren vorrangig aus der eigenen Jugend und aus den Jugendabteilungen der umliegenden Vereine bis Frankfurt. Da gab es immer wieder Basketball-Arbeiter, Rollenspieler, denen nicht das ganz große Talent in die Wiege gelegt war.
Und dann waren da die wenigen, die ihren Sport zum Zungeschnalzen zelebrierten. Die Vertreter der ersten Gattung blieben zumeist während ihrer gesamten Karriere der Sporthalle Ost treu. Die anderen konnten irgendwann nicht mehr der Versuchung des großen Geldes anderer Vereine widerstehen und sagten der Heimat adieu. Doch auch wenn diese Spieler zuweilen nur für eine kurze Zeit die Erstligamannschaften des MTV 1846 Gießen bereicherten, gehören doch gerade sie auch zu denjenigen, die in eine Gießener „Hall of Fame“ gehören. Bundestrainer Bernd Röder bezeichnete diese begnadeten Talente als jene Typen, denen man einfach den Ball geben muss und sich dann sicher sein kann, dass sie etwas Produktives damit anzufangen wissen.
Der letzte dieser Jahrhunderttalente, der aus Gießen und Umgebung in die Welt zog und Karriere machte, war Henning Harnisch. Der 1968 geborene Marburger stieß noch als A-Jugendlicher in die von Günther Lindenstruth und Hans Heß trainierte Bundesligamannschaft des MTV 1846 Gießen.
Doch wer glaubte, der 2,02 Meter lange, damals noch etwas schmalschultrige und dünnbeinige Schlaks würde sich erst einmal vorsichtig an die höchste deutsche Spielklasse herantasten, wurde von dem späteren Querdenker des Sports schnell eines Besseren belehrt.
„Hanging“ Henning vernaschte von Beginn an körperlich deutlich bevorteilte Gegenspieler, liebte es, aus eins-gegen-eins Situationen die Kugel von oben nach unten durch die Reuse zu jagen, um sich dann an den Korb zu hängen. Und wenn es ihm unter dem Brett zu dunkel wurde, verabschiedete er sich hinter die Dreierlinie und versenkte die Kugel von ganz weit draußen.
„Das wird ein ganz Großer“ waren sich die Osthallenbesucher schon in seiner ersten Spielzeit sicher. Mit ihm und seinem kongenialen Alterskameraden Michael „Mike“ Koch erreichte die Mannschaft 1987 das Pokalfinale. Dann zog es Harnisch zum Erzrivalen Bayer Leverkusen. Am Rhein feierte er Serienmeisterschaften, wechselte nach Berlin, wurde dort wieder mehrfach Deutscher Meister, gehörte der Europameisterschafts-Nationalmannschaft 1993 an und beendete völlig überraschend bereits als 29-Jähriger seine Karriere, um sich anderen Herausforderungen zu stellen.
Text: Wolfgang Lehmann